Der Bericht über die von Vienne Chan, Max Grünberg, Andreas Niegl und Mi You organisierte Veranstaltung des „Migrants Workers Summit“ gibt einen Einblick in thematische Inhalte sowie Beschreibungen der Workshops und Gesprächsrunden.
Der Migrant Workers Summit fand vom 15.9.2022 bis 18.9.2022 statt. Die School of Transnational Organizing, eine Initiative unter dem Schirm von European Alternatives e.V., versammelte in Zusammenarbeit mit dem documenta Institut eine Gruppe von migrantischen Arbeiter:innen, Organisator:innen und Aktivist:innen, die unter anderem die Berliner Lieferfahrerkollektive, die Luftfahrtindustrie, die Berlin Tech Workers Coalition sowie Vertreter:innen von gewerkschaftlichen Organisationen und Lehrende sowie Studierende der Global Labour University aus Kassel vertraten. Mit der Veranstaltung begaben wir uns in einem inspirierenden und einvernehmlichen Raum auf die Suche nach der verlorenen Kunst des Organisierens. Ausgehend von der Erfahrung, dass transnationale Arbeiter:innenkämpfe von Arbeitsmigrant:innen selbst geführt werden sollten, war der Gipfel eine Übung im Aufbau von Gemeinschaften und Netzwerken sowie in der Kunst der politischen Organisierens durch die Entwicklung kollektiver Methoden. Die Ökologie des Aktivismus sollte genährt werden, um eine Kultur der Solidarität wieder möglich zu machen. Für das documenta-Institut bestand die zentrale Frage darin, zu verstehen, was die kulturellen Ausdrucksformen der heutigen Arbeiter:innenkämpfe sind, und zu untersuchen, wie die Kunst eine Rolle bei der Unterstützung dieser Kämpfe spielen könnte. Das Programm der Veranstaltung verband daher politische und organisatorische Workshops mit solchen, die sich auf künstlerische Praktiken konzentrierten.
Der erste Workshop der Soziologin Bue Rübner Hansen (Uni Jena) mit dem Titel "Transformative Ikigai'' griff die gleichnamige Selbstverbesserungsmethode kritisch auf, die auf einem japanischen Konzept (grob übersetzt als "Lebenszweck") basiert und normalerweise auf individuelle Bewertungen der eigenen Berufswahl angewendet wird. Hier wurde sie stattdessen verwendet, um sich ein kollektives Ökosystem miteinander verbundener Missstände vorzustellen und über die Frage nachzudenken, welche Industrien und Dienstleistungen entweder abgeschafft, umgewandelt oder erweitert werden sollten, um den aktuellen ökologischen und sozialen Krisen zu begegnen.
Der zweite Workshop mit dem Titel "Building Powerful Demands" wurde von dem Gewerkschaftsorganisator Kalle Kunkel geleitet. Er konzentrierte sich auf die Unterscheidung von Strategien und Taktiken, d.h. auf lang- und kurzfristige Ziele, die in der Organisationsplanung abgewogen werden müssen. In seinem Workshop wurden die situationsbedingten Möglichkeiten und Grenzen verschiedener politischer Mittel wie Betriebsräte, Gewerkschaftsstreiks oder öffentliche politische Kampagnen vorgestellt.
Die künstlerischen Workshops wurden von der Künstlerin Alicja Rogalska, dem Theaterregisseur und Dramaturgen Kai Tuchmann und dem Künstler und Bühnenbildner Anton Lukas geleitet.
Der Workshop von Alicja Rogalska untersuchte das Potenzial von Videos und sozialen Medien als künstlerisches Format, das im politischen Kontext genutzt werden kann. Durch Diskussionen und praktische Übungen und Spiele wurden die Teilnehmer:innen ermutigt, Wege zu finden, wie sie verschiedene Social Media Plattformen, Formate (z.B. Memes) und gesellschaftspolitische Themen (z.B. Greenwashing) am besten kombinieren können, um ihre Botschaften zu vermitteln.
Der Workshop von Kai Tuchmann konzentrierte sich auf kollektive Erfahrungen und Ausdrucksformen in einem performativen Umfeld. Er betonte die Art und Weise, wie Kollektivität entweder durch das Zusammensein im selben Raum, durch Übungen, die auf Bewegung und Körperwahrnehmung basieren oder durch persönliche Erzählungen und gegenseitiges Zuhören geformt werden kann.
Der dritte künstlerische Workshop unter der Leitung von Anton Lukas führte die Teilnehmer:innen hinaus und beschäftigte sich mit Teilen der documenta-Ausstellung im öffentlichen Raum. Die Teilnehmer:innen wurden gebeten, eine visuelle Mediation durchzuführen, um sie für die urbane Umgebung zu sensibilisieren. Indem sie ihre Umgebung achtsam wahrnahmen, konnten sie darüber nachdenken, wie Politik am besten vermittelt werden könnte. Neben den Papppuppen (Wayang kardus) des Kollektivs Taring Padi diskutierten die Teilnehmer:innen beispielsweise über die Rolle der Ästhetik im politischen Kampf und darüber, wie die Sichtbarkeit politischer Forderungen durch künstlerischen Ausdruck verstärkt werden könnte.
Abgerundet wurden die Workshops des Gipfels durch eine öffentliche Veranstaltung zum Thema "How to Organize Socially Useful & Climate-Friendly Labor" (Wie man sozial nützliche und klimafreundliche Arbeit organisiert) sowie mehreren Gruppendiskussionen, die sich auf eine Vielzahl von Themen konzentrierten, wie z. B. die intersektionellen Kämpfe von Wanderarbeiter:innen, Arbeitsbedingungen für Organisator:innen, technologische Hilfsmittel für die politische Arbeit, die Rolle von Gewerkschaftsorganisationen, Finanzierung, die Notwendigkeit kollaborativer Räume, Nachhaltigkeit und Wissenstransfer usw.
Die Veranstaltung markiert den Beginn einer längeren Untersuchung der Möglichkeiten, wie Kunst im weitesten Sinne an Aktivismus und Politik teilhaben kann. In den Aussagen vieler Teilnehmenden spiegelte sich das klare Verständnis dafür wider, dass Kunst und Kultur nicht nur wichtige Aspekte des allgemeinen Lebens, sondern auch insbesondere des politischen Lebens sind. Viele Teilnehmer:innen praktizierten, studierten und interessierten sich für Kunst, Musik, Design usw., neigten aber dazu, eine Grenze zwischen diesen "persönlichen" Interessen und ihrem Aktivismus zu ziehen. Umgekehrt trugen die Kunstworkshops dazu bei, die affektiven, narrativen und kulturellen Aspekte politischen Handelns zu betonen, die nach Ansicht einiger Teilnehmer:innen oft nicht angesprochen werden.
Die Möglichkeit, gemeinsam Kunst zu erleben und zu schaffen, ermöglichte es den Teilnehmenden, sich über Themen, die außerhalb ihrer Gewohnheiten liegen, auszutauschen und miteinander in Kontakt zu treten. Über den Eisbrecher-Effekt und die Begegnung verschiedenerer Perspektiven hinaus, ermöglichte das gemeinsame Kunstschaffen ein Gespräch über Themen, die zwar mit der eigenen Organisationsarbeit zusammenhängen, aber nicht im Mittelpunkt stehen, was für künftige sektorübergreifende Organisationsarbeit hilfreich sein kann.
Darüber hinaus, so das Feedback eines Teilnehmers, waren Teilnehmende zunächst skeptisch, was die Kunst für den Aktivismus bringen könnte. Der Theater-Workshop verleitete Teilnehmer:innen allerdings zu einer angenehmen Überraschung, da er das Gefühl der Verletzlichkeit, das im Raum des Aktivismus oft fehlt, ermöglichte. In diesem Sinne hat die Kunst das Potenzial, in einem Bereich, der für seine Anforderungen und seinen Stress bekannt ist, ein Umfeld der Fürsorge und Zärtlichkeit zu schaffen. Ob diese Zärtlichkeit über die Veranstaltung hinaus anhält, bleibt noch offen, aber sie gibt den Teilnehmer:innen zumindest die Möglichkeit, anders miteinander umzugehen und möglicherweise ein Gefühl der intersektionellen Solidarität zu stärken.