Drei Fragen an Liliana Gómez

Interview

Seit Oktober 2021 sind alle Professuren des documenta Instituts besetzt. Mit Mi You, Felix Vogel und Liliana Gómez kamen Wissenschaftler:innen nach Kassel, die ihre jeweiligen Hintergründe, Ideen und Perspektiven in das documenta Institut einbringen. Einen ersten Eindruck davon wollen wir in der Reihe „Drei Fragen an…“ vermitteln. Dafür stellte Heinz Bude den Professor:innen folgende Fragen: Wie wurden Sie auf die Ausschreibung Ihrer Professur aufmerksam? Welchen Hintergrund bringen Sie mit? Und wo wollen Sie hin? Die Antworten gibt diesmal Liliana Gómez, Professorin des Fachgebietes Kunst und Gesellschaft.


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HB: Frau Gómez, Sie können sich doch sicher noch daran erinnern, wie Sie die Ausschreibung der Professur für Kunst und Gesellschaft gelesen haben. Was haben Sie sich vorgestellt, was das für eine Professur ist? LG: Also der Ausgangspunkt war für mich das Archiv. Das war und ist für mich der Schlüsselbegriff. Auch interessierte mich der Aufbau eines neuen Instituts, des documenta Instituts. Ich fand es reizvoll, dass mit der Professur keine vakante Stelle besetzt werden sollte, sondern vielmehr, dass etwas aufgebaut werden sollte, was man gestalten kann. Den Aufbau eines Instituts in dieser Konstellation mit dem documenta Archiv, das bereits existiert, fand und finde ich spannend und attraktiv. Und natürlich hat mich ein Stück weit auch mein eigener Werdegang motiviert: Als SNF-Förderungsprofessorin an der Universität Zürich habe ich, bevor ich nach Kassel kam, eine Nachwuchsforschergruppe geleitet, in der interdisziplinär zusammengearbeitet wurde. Das Zusammenführen der unterschiedlichen Hintergründe aus Literatur- und Kulturwissenschaft, Philosophie und Kunst, habe ich dort als sehr gewinnbringend erlebt. Deshalb haben mich der Aufbau des documenta Instituts und das Profil der Professur sofort angesprochen, diese Gründungsarbeit inhaltlich mitzugestalten. HB: Und man geht ja von einem bestimmten Ausgangspunkt an solche Forschung heran. Können Sie uns etwas dazu sagen? Was ist das bei Ihnen? Was ist das für ein Ausgangspunkt? LG: Ja, also mein Ausgangspunkt hat natürlich auch mit meiner Tätigkeit an der Universität Zürich zu tun und damit, dass ich die Nachwuchsgruppe zu „Contested Amnesia and Dissonant Narratives in the Global South: Post-conflict in Literature, Art, and Emergent Archives“ leitete. Inhaltlich war für mich der Ausgangspunkt wieder das Archiv: In meiner eigenen Forschung beschäftigte ich mich mit emergenten Archiven, verschollenen Archiven, mit Archiven, die aufgrund gesellschaftlicher Umbrüche verschwunden sind oder beseitigt wurden, abwesend sind oder in anderer Weise durch künstlerische oder literarische Zugriffe wieder auftauchen – also das emergente Archiv als eine Art Gegenfigur zum institutionalisierten Archiv. In Kassel möchte ich mit diesen unterschiedlichen Archiven und Archivbegriffen weiterarbeiten. Bereits für mein Habilitationsprojekt waren eine historische Recherche und eben die Archivarbeit zentral, die ich vor allem in den USA und in der Karibik realisierte. Über Jahre hinweg beschäftigte ich mich mit dem Fotoarchiv der United Fruit Company und der Frage, was das Visuelle als auch das Archiv als ein Medium über gesellschaftliche Transformationsprozesse, über das Anthropozän, über das Kolonialverhältnis und seine Machtasymmetrien sagen können. Das war ein Eingang, sehr explizit mit dem Archivbegriff methodisch als auch theoretisch zu arbeiten. Beide Forschungserfahrungen bestimmen daher auch meinen Ausgangspunkt für eine Forschung an der Universität Kassel, an der Kunsthochschule und natürlich am documenta Institut. HB: War das ein wenig institutionalisiertes Archiv? LG: Ja, das Fotoarchiv der United Fruit Company (1891-1962) ist ein corporate archive. Ursprünglich war es wohl nicht vorgesehen, dass es der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollte. Gerade deshalb fand ich die Verortung des Archivs an der Schnittstelle von privat und öffentlich mit den jeweiligen Aushandlungsprozessen und Widersprüchen sehr spannend. Und auch das Erleben verschiedener Wissenschaftskontexte – ich habe einige Zeit im Ausland gelebt, an der Ostküste in den USA, später dann in der Schweiz – bringe ich als Erfahrung für die neue Aufgabe am documenta Institut mit. Mir ist sehr bewusst, dass Archive gerade eben auch für die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung ein Ausgangspunkt sein können, um methodologisch und theoretisch das interdisziplinäre Forschungsfeld von Kunst weiter auszuloten. Und deshalb bringe ich diese globale Perspektive und das Wissen um emergente Archive und Archive, die sich bewegen, in den Aufbau des documenta Instituts mit ein. HB: Und wenn ich Sie jetzt fragen würde, wo Sie mit Ihrer Forschung hinwollen: Haben Sie da auch schon eine Idee? LG: Ja, natürlich. Die hatte ich im Grunde bereits beim Lesen der Ausschreibung der Professur. Also das documenta Archiv hat ein unglaubliches Potenzial. Sowohl das Archiv als auch die Weltkunstausstellungen sind nicht nur in eine deutsche oder deutsch-deutsche Geschichte eingeschrieben, sondern auch in eine Globalgeschichte. Das Archiv in dieser Weise in einer großen Dimension zu denken und weiterzuentwickeln, ist eines meiner Ziele. Das Archiv ist zweifelsohne eine der tragenden Säulen des documenta Instituts. Aber es geht natürlich nicht nur darum, das Archiv der documenta als solches zu erforschen. Sondern es geht auch darum, kritische und unabhängige Forschung zu ermöglichen, um etwa ebenso auf Fragen nach den unerzählten Geschichten der Bundesrepublik zu antworten, die ihren Anfang im Archiv haben können. Ausstellungen und Ausstellungsplattformen wie die documenta sind Foren und deshalb immer auch Aushandlungen von gesellschaftlichen Prozessen. Das spiegelt die documenta sehr genau wider. Und das ist äußerst spannend. Das zusammen mit anderen Phänomenen von ästhetischen Praktiken zu untersuchen, Ausstellungen als Foren der Artikulation von Öffentlichkeit zu verstehen, sind Richtungen meiner Forschung. Diese Thematisierungen von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen werden spätestens von Catherine David mit der documenta X von 1997 sehr bewusst ins Zentrum gestellt. Demnach ist die documenta nicht nur eine Plattform der Gegenwartskunst, auf der innerdeutsche gesellschaftliche und kulturelle Prozesse verhandelt werden, sondern ist eben auch in einer globalen Dimension gegenzulesen. Das sich in dieser Weise anzuschauen und global zu betrachten, ist ein weiterer wichtiger Ansatz.